
„Sara und Josef im verfluchten Wald“. So heißt das Märchen, das Schülerinnen und Schüler von zwei Vorbereitungsklassen (besser bekannt als „Willkommensklassen“) der Gottlieb-Daimler-Schule Ludwigsfelde (Land Brandenburg) im Rahmen einer Schreib- und Kunstwerkstatt im Schloss Genshagen vom 17. bis 19. Mai 2017 realisiert haben. Die zehn Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan, Italien, Polen und Russland waren zum Zeitpunkt der Werkstatt zwischen 12 und 17 Jahren alt und erst seit Kurzem in Deutschland. Unter dem Motto „Es war einmal… Erzähl mir (d)eine Geschichte!“ arbeiteten sie mit zwei Berliner Künstlerinnen zusammen, der Schriftstellerin Karla Reimert und der Malerin Natsuyo Koizumi. Gemeinsam entwickelten sie eine Geschichte und arbeiteten anschließend einzeln und in kleinen Gruppen an Text und Illustrationen. Sana Abed Albaki, Jafar Ahmadi, Nikola Borowska, Alimkhan Mansurov, Ernest Piotrowski, Jenny Ruzi, Joudy Shashaa, Omar Shipli, Rabiee Yassin und Julia Anna Zimniewicz hatten sich mit ihrer Lehrerin Ewelina Lescau-Pertek auf die Schreib- und Kunstwerkstatt über Monate in der Schule vorbereitet. Die Jugendlichen wurden in die Textgattung „Märchen“ eingeführt, sie lernten die narrativen Strukturen kennen, machten sich vertraut mit den typischen Figuren, Orten und Handlungen, die sich in Märchen wiederfinden lassen, und übten das spezifische Vokabular auch mithilfe von Spielkarten. Im Verlauf des Projekts begaben sich die Jugendlichen auf die Suche nach Gemeinsamkeiten in Märchen aus aller Welt und erzählten sich gegenseitig Geschichten aus der eigenen Heimat, die ihre Identität mitgeprägt haben. Zur Vorbereitung befassten sich die Jugendlichen insbesondere mit den Erzählungen der Schriftstellerin, Musikerin und Widerstandskämpferin Noor Inayat Khan, die 1914 in Moskau als Tochter eines Sufi-Lehrers geboren wurde. Nach der Auswanderung der Familie zuerst nach London und anschließend nach Paris, studierte Noor Inayat Khan Kinderpsychologie und begann als Kinderbuchautorin Märchen zu publizieren, darunter Neudichtungen alter indischer Fabeln. 1940 floh sie vor den deutschen Besatzern nach London. Sie kehrte 1943 als britische Agentin zur Unterstützung der Resistance nach 49 Frankreich zurück, wo sie verraten und von der Gestapo verhaftet wurde. Nach fehlgeschlagenen Fluchtversuchen wurde sie 1944 im Konzentrationslager Dachau ermordet. Noor Inayat Khans Erzählungen dienten als Ausgangspunkt für einen Austausch über Märchen. Ihre Texte spiegeln häufig klassische Entwicklungsschritte und Reifeprozesse der kindlichen Seele und enthalten viele Elemente, die für Jugendliche mit Flucht und/oder Migrationserfahrung heute eine Bedeutung haben können: Flucht, Krieg, Widerstand, Kampf für Freiheit sind Begriffe, die sich sowohl in Khans Biographie und Geschichten finden, aber auch einigen Jugendlichen aus der eigenen Erfahrung sehr vertraut waren. Viele von Khans Märchen thematisieren Aufbruch und Heimkehr, Selbstopfer, Tod und Wiederauferstehung – und diese Themen spielen auch im Märchen der Jugendlichen eine große Rolle, insofern als die Geschwister Josef und Sara viele Gefahren auf sich nehmen, um ihre geliebte Mutter zu retten. Khan arbeitete intensiv an ihrer Vision von einer Welt, in der die Menschen friedlich vereint sind, indem sie Motive und Gestalten aus verschiedenen Märchentraditionen aufnahm und in ihren Geschichten auf neuartige Weise miteinander verknüpfte. In diesem Sinne setzten die Jugendlichen ihre Arbeit fort. Die italienische Hexe Volpina trifft auf den Wiedehopf Hudhud, der in der arabischen Mystik eine prägende Rolle spielt, europäisches Kulturgut wie die Sphinx und der Phönix auf Zombies und Zwerge, moderne Vertreter der Populärkultur. Der angsteinflößende und undurchdringbare Wald, der mutige Kampf gegen das Böse, die Hilfe mystischer Tiere, die glückliche Erlösung am Ende der Geschichte zeigen, wie die Begegnung mit der Märchenwelt von Noor Inayat Khan die Jugendlichen dazu animiert hat, selbst Geschichten zu erdenken, sich an das eigene Schreiben heranzutrauen und bekannte Traditionen mit fremden zu verschmelzen. Eigene Wünsche, Hoffnungen und Erfahrungen bekamen Raum und durften mit in die Produktion einfließen. Vieles wurde zum ersten Mal erzählt, gezeichnet oder aufgeschrieben. Hierfür bot das Schloss Genshagen mit seinem wundervollen Ambiente und besonders dem Park einen sicheren Rahmen. 50 Der erzählerische Nachlass von Noor Inayat Khan wurde von Karla Reimert aus dem Englischen und Französischen ins Deutsche übersetzt und ist 2016 unter dem Titel König Akbar und seine Tochter im Verlag Heilbronn mit Illustrationen von Natsuyo Koizumi erschienen. Beide Künstlerinnen unterstützten die Jugendlichen bei der Realisierung ihres Märchens durch alle notwendigen Schritte hindurch. Die Geschichte wurde von allen gemeinsam erdacht, der Text stammt aus unterschiedlichen Federn: Jafar Ahmadi, Alimkhan Mansurov, Jenny Ruzi und Omar Shipli suchten einzelne Textpassagen aus, die sie schreiben wollten. Geschrieben wurde zunächst in der eigenen Sprache, anschließend übersetzten sich die jungen Autorinnen und Autoren mit Hilfe der Organisatoren selbst ins Deutsche. Einige Textpassagen wurden auch direkt auf Deutsch verfasst, sobald die Jugendlichen durch die Arbeit am Text mehr Vertrauen zu sich selbst gewonnen hatten. Sana Abed Albaki, Nikola Borowska, Ernest Piotrowski, Joudy Shashaa, Rabiee Yassin und Julia Anna Zimniewicz arbeiteten parallel intensiv in der Kunstwerkstatt, wobei sie verschiedene Techniken erlernten. Die unter der Anleitung von Natsuyo Koizumi entstandenen Illustrationen sind Kaltnadelradierungen. Bei diesem Projekt, das die Stiftung Genshagen im Rahmen der bundesweiten Initiative „Kultur öffnet Welten“ realisiert hat, ging es zunächst darum, ein Angebot der Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten im außerschulischen Bereich für Jugendliche mit Flucht- und/ oder Migrationserfahrung zu schaffen. Dabei erhielten die Teilnehmenden die Gelegenheit, mit Künstlerinnen außerhalb von Schule und Elternhaus an einem einmaligen, geschützten „dritten Ort“ zu arbeiten und eine regional, national und international aktive Einrichtung kennenzulernen. Ein ganz besonderer Zugang zur Literatur wurde über die Gattung „Märchen“ erschlossen, die es in allen Kulturen gibt und deren Struktur oft von Kindheit an vermittelt wird. Das Selbstbewusstsein der Jugendlichen konnte durch die Identifikationsmöglichkeit mit Märchenfiguren (Heldenreise), und die eigene Identität durch das gegenseitige Erzählen von Märchen aus dem eigenen Land gestärkt werden. Die Anerkennung, die die Teilnehmenden durch die Schreib- und Kunstwerkstatt sowie durch die Präsentation ihres Werkes am 19. Mai 2017 im Schloss Genshagen erfahren haben und die sie durch die Veröffentlichung in diesem Buch noch erfahren werden, hat mit Sicherheit zur Förderung der individuellen Persönlichkeit der Jugendlichen 51 beigetragen. Auch die Stärkung der kulturellen Vielfalt stand im Zentrum dieses Workshops durch den freien Austausch der kulturell sehr unterschiedlich geprägten Schülerinnen und Schüler und das gemeinsame Eintauchen in Geschichten aus anderen Ländern und Kulturkreisen. Das gegenseitige Respektieren und Anerkennen innerhalb einer heterogenen Gruppe war Voraussetzung für das Gelingen eines gemeinsamen Werkes. Nicht zuletzt förderte dieses Projekt die Teamfähigkeit der Jugendlichen durch das kollektive Arbeiten, ihre Kreativität durch das Erfinden der Geschichte, ihre künstlerischen Fertigkeiten durch die Realisierung der Illustrationen und vor allem ihre Sprachkompetenz und Ausdrucksfähigkeit durch das Schreiben und Präsentieren des Märchens. Die Texte der Kinder wurden so wenig wie möglich geglättet. Sie sind so authentische Zeugnisse von Sprach- und Kulturaneignung. In der Ermutigung zum freien Schreiben und zum Zeichnen, durch die Anerkennung ihres eigenen künstlerischen Tuns durch Andere und durch die Selbsterfahrung wächst die Lust am aktiven, kreativen „Selber Tun“ und damit die Fähigkeit und die Kraft zu Partizipation, Kreativität und Selbstreflektion. Die Organisatoren bedanken sich hierfür bei der Gottlieb-Daimler-Schule Ludwigsfelde und im Besonderen bei dem Direktor Volker Große und der Lehrerin Ewelina Lescau-Pertek für die neue und gelungene Kooperation sowie bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und beim Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg für die finanzielle Unterstützung. Anthea Gick und Björn Pfeiffer danken wir für die kompetente Unterstützung in der Werkstattphase. Nicht zuletzt bedanken wir uns bei den Jugendlichen für ihre vielfältigen Ideen, ihre großartigen Persönlichkeiten und ihren Spaß an der Arbeit. Noémie Kaufman, Projektleiterin der Stiftung Genshagen, und Karla Reimert, Leiterin der Schreibwerkstatt:
Die Geschichte des Zombiekönigs
Vor zehn Jahren ging einmal ein hungriger Riese im Wald spazieren. Auf einmal sah er ein großes Schloss mitten im Wald. An einem der Fenster bemerkte er eine alte Frau. Verwundert trat er in das Schloss ein und machte sich auf die Suche nach der Frau, doch sie verschwand immer wieder sehr schnell. Er suchte und suchte in allen Gängen und Sälen. Einmal sah er sie von weitem und rief: „Stopp, stehen bleiben!“ Die alte Frau blieb stehen, bis er nahe bei ihr war. Sie drehte sich um und sagte: „Wer bist du? Was willst du?“ Er sagte: „Ich bin ein Riese und ich werde dich fressen!“ Da sagte die Frau: „Machen wir einen Vertrag!“ Und der Riese antwortete: „Ich weiß nicht, wer du bist!“
Sie sagte: „Ich bin Volpina!“ Der Riese fragte: „Warum bist du so schnell?“
Volpina antwortete: „Ich kann überall und zugleich woanders sein in einer Sekunde! Wir könnten heiraten, dann wirst du der König der Riesen und brauchst mich nicht zu fressen!“
Der Riese sagte: „Ist das unser Vertrag?“
Und er heiratete Volpina und sie lebten gemeinsam in dem Schloss. Eines Nachts aber fühlte sich der Riese schwach und wollte die Zauberkräfte seiner Frau für sich haben. Daher ging er zu ihr in die Küche, um sie zu fressen. Volpina sah ihren Mann an und sagte: „Was ist los? Willst du mich fressen?“
Da sagte der Riese: „Ja, ich werde dich fressen.“ So begann der Kampf zwischen dem Riesen und der Hexe. Der Riese griff sie an, aber Volpina war zu schnell für ihn. Wie ein Blitz hüpfte sie zur Seite. Zornig verfluchte sie den König: „In einer Woche wirst du jede Nacht ein Zombie sein! Ab genau 18:00 Uhr! Millionen Jahre wirst du ein Zombie bleiben und nicht sterben können, bis jemand kommt und dich tötet! Du sollst für immer alleine sein und immer hungrig bleiben!“
Aber noch waren sie ja verheiratet. In der Küche hatte Volpina extra ein Elixier gekocht für den Riesen, ihren Mann, damit er ein Mensch werden könnte wie sie. Und der Riese hatte sie töten wollen.
Da sagte Volpina: „Ich lege dieses Elixier um deinen Hals. Es gibt dir Macht über die Toten. Tagsüber kannst du ein Mensch sein unter Menschen, klein wie sie. Nachts aber wirst du ein Zombie und mit deiner riesenhaften Gestalt jeden verschrecken. Jemand muss dich töten und das Elixier von deinem Hals nehmen, dann erst wirst du sterben. Ich lasse dir auch das Schloss und den Friedhof, wo du König sein darfst und über die Toten wachen musst.“