Die Stiftung Genshagen hat Anfang Dezember 2017 das Märchenbuch „Sara und Josef im verfluchten Wald“ veröffentlicht, das von Schülerinnen und Schülern einer Willkommensklasse der Gottlieb-Daimler-Schule Ludwigsfelde (Brandenburg) realisiert wurde. Die Stiftung hatte die Jugendlichen im Mai 2017 zu einer Kunst- und Schreibwerkstatt in Zusammenarbeit mit zwei Künstlerinnen, der Schriftstellerin und zukünftigen künstlerischen Leiterin des Programms für Kulturelle Bildung am Haus für Poesie Karla Reimert und der Malerin Natsuyo Koizumi, eingeladen. Die Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan, Russland, Polen und Italien haben gemeinsam ein neuartiges Märchen erarbeitet und mit Unterstützung der Künstlerinnen zu Papier gebracht. Die tiefgründige Erzählung über ein Geschwisterpaar mit künstlerisch erstaunlichen Kaltnadelradierungen der 12- bis 17-Jährigen ist im Dezember als E-Book und in gebundener Ausführung beim Verlag Heilbronn erschienen. Es ist damit ein, wenn nicht das erste Zeugnis einer wirklich kooperativen Arbeit in der Märchendidaktik, die auf interkulturelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe setzt. Die Texte und Bilder der Kinder wurden so wenig wie möglich geglättet und sind so authentische Zeugnisse von Sprach- und Kulturaneignung, „language awareness“ und Integration, aber auch für tiefe Biografie- und Resilienzarbeit.
Projektleiterin Noémie Kaufman wurde von „Kultur bildet.“-Redakteurin Ulrike Plüschke befragt.
Ulrike Plüschke: Frau Kaufman, wie ist die Idee für das Projekt entstanden und welche Ziele wollten Sie damit erreichen?
Noémie Kaufman:Ich wollte schon lange ein Märchenprojekt realisieren, um herauszufinden, was Märchen für die interkulturelle Arbeit bedeuten können. Ich bin mit einer rumänischen Großmutter aufgewachsen und merkte schon als Kind, dass mir andere Geschichten erzählt werden. Ich war neugierig auf Märchen anderer Kulturkreise und überzeugt, dass Geschichten, die man in der Kindheit hört, die eigene Identität prägen. So kam mir die Idee einer Schreibwerkstatt mit Jugendlichen aus einer Willkommensklasse, die, inspiriert von Märchen ihrer Kulturen, eine neue Geschichte gemeinsam schreiben könnten. In der Planungsphase haben wir das Projekt um eine Kunstwerkstatt erweitert, um jeden und jede abholen zu können.
Ziele gab es viele, zunächst aber stand im Vordergrund der interkulturelle Austausch unter den Jugendlichen, die Förderung der Sprache und das Stärken des Selbstwertgefühls der Jugendlichen durch das eigene künstlerische Schaffen.
Würden Sie bitte kurz darstellen, wer am Projekt teilgenommen hat?
Wir haben das Projekt in Zusammenarbeit mit der Gottlieb-Daimler-Schule Ludwigsfelde(Brandenburg) umgesetzt. Dort haben wir zunächst mit allen Schülerinnen und Schülern zweier Willkommensklassen die ersten Elemente der gemeinsamen Geschichte erarbeitet. Später haben an dem Workshop in der Stiftung Genshagen 10 Jugendliche teilgenommen, die zwischen 12 und 17 Jahren alt waren, erst seit kurzem in Deutschland leben und aus Syrien, Afghanistan, Polen, Italien und Russland kommen. Neben den Künstlerinnen haben auch das Engagement der Lehrerin Frau Lescau-Pertek und des Direktors Herr Große eine wesentliche Rolle bei diesem Projekt gespielt.
Könnten Sie bitte kurz die Projektetappen beschreiben – wurden dabei schulische und außerschulische Phasen verknüpft?
Das Projekt war als Kollaboration zwischen einer international tätigen Kultureinrichtung, einer Schule und zwei Künstlerinnen konzipiert und beinhaltete schulische und außerschulische Phasen. Zunächst sind die Schriftstellerin Karla Reimert, die Malerin Natsuyo Koizumi und ich zur Schule gefahren und haben die Schülerinnen und Schüler der Willkommensklassen kennengelernt. Bei diesem ersten Treffen haben wir gemeinsam die Grundelemente der gemeinsamen Geschichte anhand von mitgebrachten Märchenspielkarten festgehalten: Wer ist der Held, wer ist der Böse, wo findet die Geschichte statt, was passiert während der Heldenreise usw.
Die Jugendlichen haben dann mit ihrer Lehrerin in den Wochen vor dem Workshop das Thema Märchen im Unterricht vorbereitet und vor allem das spezifische Vokabular gelernt. Dabei haben sie mit den Karten gearbeitet und interkulturelle Märchen der Sufi-Prinzessin und Resistance-Kämpferin Noor Inayat Khan gelesen, die Karla Reimert vor einigen Jahren übersetzt hatte.
Im Mai 2017 fand die Schreib- und Kunstwerkstatt im Schloss und Park Genshagen statt. Wir hatten vor Ort nur drei Tage Zeit. Am ersten Tag haben sich die Jugendlichen auf eine Geschichte geeinigt. Sie hatten viele unterschiedliche Ideen und mussten einige Kompromisse eingehen, um die Wünsche und Vorstellungen aller soweit wie möglich in die Geschichte einzubauen. Am zweiten und dritten Tag haben sich die Jugendlichen in zwei Gruppen aufgeteilt: Während einige Kaltnadelradierungen als Illustrationen für das Märchen realisierten, schrieben die anderen die einzelnen Textpassagen, die sie unter sich verteilt hatten. Anfangs schrieben sie zumeist in ihrer Herkunftssprache und haben sich selbst mit Hilfe des Leitungsteams ins Deutsche übersetzt, später schrieben manche schon direkt auf Deutsch. Am Ende des Workshops gab es eine Präsentation: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung wurden zu einer Lesung einzelner Textpassagen und einer Ausstellung der Illustrationen eingeladen.
In der letzten Phase des Projekts hat das Leitungsteam die Texte lektoriert und in Zusammenarbeit mit dem Verlag Heilbronn Texte und Illustrationen zu einem Märchen zusammengefügt und dieses als E-Book und als gebundene Ausgabe veröffentlicht.
Wie wurde der interkulturelle Austausch von den Schülerinnen und Schülern, aber auch vom Projektleitungsteam gelebt und erlebt?
Die Kinder haben sehr unterschiedliche Hintergründe: Einige kamen aus europäischen Ländern, andere aus Kriegsgebieten. Auch ihre Vorstellungen waren sehr verschieden, das machte die gemeinsame Arbeit so spannend. Die Helden der Geschichte, ein Geschwisterpaar, weckten zum Beispiel unterschiedliche Erwartungen. Während zunächst vereinbart wurde, dass die Schwester die Stärkere des Geschwisterpaars sein sollte, so wurde im Verlauf des Findungsprozesses entschieden, dass der Bruder alleine reisen sollte. Es war für einen der Jugendlichen nicht vorstellbar, dass die Tochter auf eine Reise geht, während die verletzte Mutter alleine bleibt. In der finalen Schlacht kämpfen die Geschwister aber gemeinsam. Hier ergab sich also ein interner Emanzipationsprozess. Viel diskutiert wurde auch darüber, wo die Geschichte spielen sollte. Dass sie in einem Wald stattfindet ist kein Zufall, einer der Teilnehmenden hat hier z.B. Teile seiner eigenen Fluchtgeschichte aufgeschrieben.
Die Jugendlichen haben viele Elemente aus Märchen ihrer Kindheit in die gemeinsame Geschichte einfließen lassen. So trifft der Wiedehopf Hud-Hud, der in der arabischen Mystik eine prägende Rolle spielt, auf Elemente europäischen Kulturguts wie die Sphinx und den Phönix sowie auf Zwerge und Zombies, moderne Vertreter der Populärkultur. Alle Ideen wurden offen in der Gruppe diskutiert, dann wurde abgestimmt. Die Konsensfindung war sehr wichtig, um auch tiefere Bewusstseinsschichten zu öffnen und gemeinsam Neues zu schaffen. Jeder konnte sich dann frei nach seinen Talenten einbringen, wer nicht schreiben wollte, leistete mit den wundervollen Kaltnadelradierungen einen wesentlichen Beitrag für das Buch.
Sicherlich war das interkulturell aufgestellte Leitungsteam sehr hilfreich für die vertrauensvolle Aufnahme des Projektes bei den Jugendlichen. Die deutsch-französisch-polnische Stiftung Genshagen und ihre Mitarbeiterinnen gaben einen offenen und wertschätzenden Rahmen. Die Schriftstellerin Karla Reimert ist nicht nur mit Märchen aus aller Welt sehr vertraut, sondern insgesamt sehr einfühlsam, tief verwurzelt im interreligiösen Dialog und verfügt über fundierte interkulturelle Kompetenzen. Auch die aus Japan stammende Malerin Natsuyo Koizumi brachte mit ihrem Zugang über die Kunst eine internationale Sprache ins Spiel, die zu einem tiefen Austausch untereinander beitrug.
Im Verlauf der Zusammenarbeit sind viele neue Ideen entstanden, das Projekt auf andere Weise fortzuführen. Weitere Kooperationen mit der Gottfried-Daimler-Schule könnten entstehen, aber auch andere Schulen haben sich bereits für das Projekt interessiert. Möglich sind auch eine Theaterfassung oder bei entsprechender Förderung eine feste Angliederung interkultureller Märchenarbeit an das Haus für Poesie. Für die Stiftung Genshagen war es eine wunderbare Gelegenheit, lokale Partner mit in die interkulturelle Arbeit einzubeziehen und Impulsgeber für neue Entwicklungen zu sein. Wir sind allen Beteiligten sehr dankbar.
Vielen Dank!
Weitere Informationen
Hier geht’s zum PDF des Buchs.
https://www.verlag-heilbronn.de/sara-und-josef-im-verfluchten-wald/