Unheimlich!

Ein schauriger Erfahrungsbericht zu dem Kooperationsprojekt zwischen dem Haus für Poesie und der Jungen Deutschen Oper von Antonia Jürgensmann

Eine Gruselwusel-Woche für Geisterbeschwörende, und alle, die es werden wollen..

Welche Monster, Gespenster oder anderen Wesen schlummern in unseren Köpfen? Und: Wie können wir es schaffen, diese Wesen von unseren Köpfen auf das Papier – und, durch unsere Performance – in die Welt hinauszubringen, und sie leben zu lassen?

Diesen Fragen sind wir in einer intensiven Workshopwoche mit einer quirligen Gruppe von Kindern im Alter von 9 bis 12 Jahren nachgegangen.

Jule, Lilly, Tvisha, Matti, Jonathan, Tonda, und die Brüder Kourosh und Kian besuchten das Haus für Poesie, um in den Schulferien Gruselgedichte zu schreiben und vorzutragen.

Hauptanleitender des Workshops war niemand geringeres als der Spoken-Word-Meister und Pionier Bas Böttcher, der sich nicht nur auf der Bühne, sondern auch als pädagogische Leitfigur im Umgang mit Kindern beweisen kann. Schon zu Beginn es Workshops wird klar, dass die Nachwuchspoet:innen hier von einem echten Profi lernen können: Durch die lebhaften Erklärungen und Beispiele des coolen Bühnenpoeten, der vor allem mit seiner Takt- und Rap-Poesie begeistert, kommt direkt Lust auf, selbst so eine tolle Performance auf die Bühne zu bringen.

Dazu lernen die Kinder verschiedene Methoden, mit denen die Gedichte garantiert überzeugen; sowohl sprachlich und inhaltlich als auch performativ. Mit einer spielerischen Leichtigkeit und viel Motivation werden stilistische Textarbeit, Schauspiel und Stimmnutzung mit der Anregung und Ausschöpfung der eigenen Phantasie verbunden. Denn klar wird schnell: Die Welt unserer Ideen hält so viel mehr bereit als die stereotypen Kürbisse und Hexen, die wir jedes Jahr zu genüge in den Supermarktregalen finden können.

Wir erfinden stattdessen WIFI-Unterwasserkolosse, Yin-und-Yan-Ritter, Inselsirenen, Covidgeister und Dinosaurierdelfinvögel, die alle ihre eigenen Geräusche und Geschichten haben. Die Möglichkeiten sind unendlich; und wir treiben unsere künstlerische Freiheit schließlich mit Nonsense-Gedichten auf die Spitze, in denen die Monster nicht einmal mehr von den Grenzen der deutschen Sprache eingefangen werden können: Wir erzählen zum Beispiel vom schwulstenden Schwurbelschwumm im Kellerklammbumm – mit Phantasieworten, die in unseren Köpfen herumspuken.

So weit, so unheimlich. Doch das Grauen ist sogar noch näher bei uns, als wir denken: Welche schauerlichen Geschöpfe könnten sich eigentlich direkt neben uns, in den Straßen von Berlin, verstecken? Auch diese Frage wird gestellt, und bei blutrünstigen Würmern, die den Fernsehturm zu Fall bringen und die Stadt unter sich begraben, Geistern, die uns in den dunklen Tunneln verfolgen und halbtoten Bauarbeitern, die entlang der Krater ins Reich der Toten durch die Baustellen humpeln, werden alle Halloweenklischees überflüssig. Bei so tollen Ideen fällt es den Kindern auch gar nicht schwer, die Ergebnisse am Ende einer Übung der Gruppe zu präsentieren.

Als die Gedichte über das „Berliner Grauen“ dann mit einer eingängigen Hook verbunden werden, die die Kinder im Takt sprechen, kommt richtiges Gang-Gefühl auf: „Nachts in Berlin, die Straßen sind leer – ein Totenkopf springt hin und her!“- rappt die Gruselbande im Chor, in Abwechslung mit den Vorführungen der Einzelgedichte.

Bei der darauffolgenden Sprachspiel-Übung werden auch die Schauspielfähigkeiten genutzt: Mit unterschiedlich verstellten Stimmen hören wir, wie schnell aus einem „Keller“ ein „Killer“, aus „Quallen“, „Qualen“, oder aus einem „riesengroßen Scheck“ ein „riesengroßer Schreck“ werden.

Nach drei Tagen kreativer Schreibarbeit mit Bas wird es ein wenig ernster: Evi Nakou und Katja Wischnewski, zwei Theaterpädagoginnen, lösen nun den Workshopleiter ab und beginnen, die Nachwuchspoet:innen professionell auf ihren großen Auftritt in der deutschen Oper vorzubereiten, wo sie ihre geschriebenen Gedichte als Teil einer Halloweenaufführung präsentieren dürfen.

Bei einer so großen Bühne kann es auch schon mal etwas Lampenfieber geben – doch auch Ängste und kleinere Konflikte, die während des Workshops entstehen, lassen sich mit ein paar Mut-machenden Gesprächen bekämpfen, und am Ende freuen sich alle auf das Finale. Es ist nicht zu übersehen, dass den jungen Dichter:innen die selbstgeschriebenen Gedichte am Herzen liegen: auch in den Pausen wird freiwillig mit Worten getüftelt und angestrengt nach Reimen gesucht; einige arbeiten sogar zuhause an den Texten weiter.

Als die Kinder am Ende ihre eigenen Kostüme mitbringen und sich selbst in kleine Monster verwandeln können, kommt aber doch wieder der Spieldrang zum Vorschein.

Ein kleines Highlight der Workshop-Woche ist unser Besuch in der Oper, wo wir nach den Proben eine kindergereichte Führung durch das beeindruckende Gebäude und den Saal erhalten. Der Menge an gestellten Fragen nach zu urteilen, scheint das Interesse der jungen Dichter:nnen auf jeden Fall geweckt zu sein.

An 31.10. ist es dann soweit: Die Deutsche Oper präsentiert Unheimlich! – Eine schaurig-schöne Aufführung für Groß und Klein, die hochklassige musikalische Darbietungen von düsteren Stücken, wie verschiedenen Interpretationen von Goethes Erlkönig, mit den wirklich lustigen Gruselgedichten von Arne Rautenberg, und natürlich den Kinderaufführungen der im Workshop geschriebenen und geprobten Gedichte fusioniert.

Bei dieser Mischung wird noch einmal deutlich, wie innovativ und unkonventionell Bas‘ Poesievermittlung und die daraus entstandenen Werke sind: an keinem Punkt wirken die Zeilen vorausschaubar, das Publikum wird von den ganz eigenen Geschichten und Geschöpfen überrascht, belustigt und auch berührt – wie zum Beispiel, als Tvisha und Matti als Horrorbraut und -bräutigam eine kleine Liebesgeschichte performen.

Beim Erleben dieser wirklich tollen und vielseitigen Veranstaltung in der komplett ausverkauften Tischlerei erfüllt mich eine Mischung aus Stolz, Anerkennung und ein wenig Wehmut. Nach dieser intensiven Zeit, in der wir alle viel lernen konnten, sind mir die Kinder sehr ans Herz gewachsen. Neben der kreativen Textarbeit blieb auch noch einiger Raum für persönliche Gespräche über Wünsche, Träume und Ängste, die persönliche Bindungen hervorgebracht haben, und auch die Kinder scheinen ihre Leiter:nnen und neuen Dichterfreund:innen nur schweren Herzens verabschieden zu wollen.

Neue Freundschaften, Bühnen- und Schreiberfahrung, Inspiration, Phantasiereisen und das Entdecken der eigenen Individualität, ganz ohne Druck und Konkurrenzkampf – all das bot der Unheimlich- Workshop, ganz zu schweigen von der tollen, abschließenden Aufführung.

Eine einmalige Erfahrung, die vom Haus für Poesie, Karla Reimert, Bas Böttcher und der Deutschen Oper ermöglicht wurde.

Im Hinblick auf all die das, was wir davon mitnehmen können, und nicht zuletzt auch die vielen positiven Rückmeldungen der Kinder, sollte das Projekt auf jeden Fall wiederholt werden – denn es gibt noch viel zu viele unheimliche und wundervolle Geschöpfe in den Köpfen von Kindern und Erwachsenen, die darauf warten, geweckt zu werden.