Interview mit Karla Montasser


Seit Anfang des Jahres 2018 baut Karla Montasser den Bereich Poetische Bildung am Haus für Poesie aus und erarbeitet ein spannendes und umfangreiches Programm. Cathleen Henschke von lernzimmerberlin hat Karla im Haus für Poesie getroffen. Ein Interview über Lyrikvermittlung.

© Katrin Born

Cathleen Henschke: Um dem Wesen moderner Sprache auf die Spur zu kommen, habe ich mich auf die Suche nach Expertinnen und Experten gemacht und bin dabei im Haus für Poesie gelandet. Ich begegne Karla Montasser, zuständig für die Poetische Bildung. Karla ist selbst Lyrikerin und Autorin von Sachbüchern, aber vor allem arbeitet sie im Haus für Poesie mit zahlreichen Dichterinnen und Dichtern. So kann sie mir einige Fragen beantworten.

Heutzutage nutzen Jugendliche mehrheitlich Smartphones fürs Sprechen und Schreiben – sie kommunizieren vor allem kurz und die nonverbale Kommunikation wird durch Smileys ersetzt.

Wenn ich mir das Leben der sogenannten „digital natives“ ansehe, so nutzen sie ihre Smartphones in bewundernswerter Weise als ein mächtiges Werkzeug für soziale, ästhetische und kommunikative Entscheidungen. Meine fünfzehnjährige Tochter schreibt den ganzen Tag mit ihren Freundinnen und Freunden und ist in ständigem Kontakt mit der weiteren Familie. Sie steuert quasi die Familienkommunikation vom Sofa aus. Sie besitzt dazu ein Repertoire selbstkuratierter Playlists, das Musikjournalisten erblassen lassen würde, und teilt diese in ihrem Freundeskreis. Sie trifft auf unterschiedlichsten Kanälen ästhetische Entscheidungen darüber, ob sie bestimmtes Bildmaterial mag und wendet es auf sich selbst an. Egal, ob das nun Modeblogs, politische Lektüregruppen, süße Katzenmeme oder Schulchats sind. Klavierspielen hat sie sich durch Youtube-Tutorials selbst beigebracht. Natürlich besitzt sie eine selbstgebaute Website… etwas, woran ich seit Jahren verzweifle.

Was bedeutet das für die Vermittlung von Inhalten generell?

Smartphonenutzerinnen und -nutzer bereiten sich intuitiv auf eine Welt vor, in der sehr viel unterschiedliches Material organisiert und gekürzt werden muss. Wie vorausschauend! Alle diese unterschiedlichen Bereiche in der digitalen Welt haben übrigens eines gemeinsam: souverän wirkt, wer die Regeln verstanden hat. Wer möchte synkopisch sprechen können wie im Rap? Wer möchte gute „Claims“, also Bildunterschriften für seinen Instagram-Account, finden? Wer einen Songtext schreiben und wer Worte ästhetisch schreiben/sprayen/tapen/stenceln und das mit anderen online teilen? Antwort: alle!

Siehst du da Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit mit Lyrik in- und außerhalb der Schule?

Im Haus für Poesie wollen wir den ganzen Reichtum der Poesie vermitteln, das geht weit über das hinaus, was allgemein unter „Lyrik“ verstanden wird. Daher setzen wir mit ganz unterschiedlichen Werkstätten an, die aber alle mit der poetischen Organisation von Wortmaterial arbeiten. Wir geben Singer-Songwriter und Spoken-Word-Kurse, Kurse zu Journaling, Streetart, Konkrete Poesie, Sound-Poesie und Sprachtechno, Instagram-Kachelgedicht-Kurse, Haiku-, Sonett- und Free-Verse-Kurse sowie Bühnensprachkurse. Neuerdings auch immer öfter in allen möglichen Stadt-Sprachen.

Und die Jugendlichen kommen da freiwillig hin?

Klar. Nicht nur Jugendliche. Immer in den großen Ferien haben wir sonntags im Haus für Poesie auch offene Poesie- und Kunstwerkstätten. Da bringen schon Achtjährige ihre Freundinnen und Freunde oder ihre Großeltern mit. Viele erleben so Dichtung oft das erste Mal seit Jahren und tauchen befreit ein in einen Strom von Worten, die ganz die ihren sind. Begleitet von Leuten, die diese Arbeit täglich praktisch tun und die zeigen können, wie wichtig es ist, Worte für eigene Emotionen zu finden.

Ist der Praxisaspekt so wichtig?

Gegenfrage. Wer würde sein Kind an einem Instrumnet von einem Musikwissenschaftler oder einer Musikwissenschaftlerin ausbilden lassen? So aber wird Literatur oft auch außerschulisch vermittelt: von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder Pädagoginnen und Pädagogen, die mit Enthusiasmus und didaktischem Können lehren, selbst aber kein eigenes Schriftstellerleben führen. Am Haus für Poesie hingegen arbeiten wir dagegen bewusst auf Dozentenebene mit lehrbegeisterten und lehrerfahrenen Dichterinnen und Dichtern, die ihre eigene Kunst auch authentisch und „in persona“ vermitteln. Und ja, das ist ein Unterschied, denn ein Großteil des Lernens geschieht in den Künsten nun mal nonverbal, durch Initiation und Nachahmung eines bestimmten Habitus.

Und in der Schule?

Für die Vermittlung von Lyrik oder Literatur allgemein in der Schule würde ich mir natürlich deutlich mehr produktionsästhetische Anteile wünschen. Die Literatur ist da im Vergleich zu Kunst und Musik etwas stiefmütterlich aufgestellt. Das hat natürlich mit der Entwicklung der Künste im 18. und 19. Jahrhundert zu tun, genauso wie mit einem falsch verstandenen „Geniekult“, an dem die Autoren und Autorinnen ehrlicherweise auch nicht ganz unschuldig sind. Mittlerweile sind die deutschlandtypischen Vorurteile gegenüber Kreativem Schreiben aber gottseidank rückläufig. Und in den Schulen wird auch mehr und vielfältiger geschrieben.

Was bedeutet das für uns Lehrerinnen und Lehrer?

Für die Schülerinnen und Schüler wäre es wohl am schönsten, wenn der Unterricht sie als Botschafterinnen und Botschafter aus der Zukunft ernstnimmt – und deswegen die Digitalisierung stärker berücksichtigen würde. Wenn wir als Lehrende die digitalen Zeichen der Zeit erkennen, können wir genau damit ordentlich punkten. Diese Möglichkeiten zur Fortbildung sind dem Haus für Poesie sehr wichtig. Zweimal im Jahr bieten wir Lehrerinnen und Lehrern daher Workshops am Haus für Poesie an, in denen immer die Umsetzung von Gedichten in andere Medien und ihre digitale Veröffentlichung im Zentrum stehen. Geleitet werden die Workshops von der Didaktikerin Claudia Maaß und dem Filmemacher und Lehrer Christoph Ulleweit.

Und die sind gut besucht, ich besuche sie auch regelmäßig.

Oh ja! Bitte früh anmelden, die Fortbildungen sind immer sofort ausgebucht… Auch auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer spüren wir lustvolles Verlangen danach, sich mit Gedichten neu zu beschäftigen. Gedichtinterpretation ist nämlich nicht der geeignetste Weg, um Menschen von Lyrik zu begeistern, aber meist der einzige, der einem in der Mittel- und Oberstufe gezeigt wird. Für alles andere müssen Lehrerinnen und Lehrer bislang selbst sorgen – und das tun sie auch, mit oft bewundernswertem Einsatz!

26.7.2018, Prenzlauer Berg, Berlin lernzimmerberlin.com/deutsche-sprache